Wir haben vor 3 Wochen die Annäherung an das Thema Aphasie mit einem Gedankenexperiment begonnen. Gedankenexperiment deswegen, weil wir nicht von Aphasie betroffen sind. Dennoch möchten wir uns mit dem Thema beschäftigen. Da es um Menschen geht, können wir mittels Vorstellungskraft und Einfühlungsvermögen versuchen, uns in die Situation der handelnden Personen zu versetzen. Die Fortsetzung unseres Gedankenexperimentes führt uns also heute zu den anderen Personen, die von Aphasie mitbetroffen sind. Für unser Experiment geben wir unseren Personen Namen und machen sie “greifbarer”. In Gedanken lassen wir heute Katharina, Hannes und Karl selbst sprechen:
Katharina, 38 Jahre, Einzelhandelskauffrau, Ehefrau von Peter, Trompeterin im Musikverein
“Mein Mann Peter ist von einer Minute zur nächsten ein anderer Mensch geworden. Peter hat sich natürlich durch den Schlaganfall auch körperlich verändert, schwieriger aber finde ich seine Sprachlosigkeit. Unsere Lebenssituation hat sich durch den Schlaganfall und die Aphasie radikal verändert. Dadurch dass ich im Berufsleben stehe, kann ich die finanzielle Absicherung unserer Familie einigermaßen aufrecht erhalten. Die Vielfachbelastung Mutter, Alleinverdienerin und Betreuerin für meinen Mann, strengt mich sehr an und fordert viel Kraft. Selbstverständlich möchte ich mit Peter weiter leben, auch wenn das anstrengend ist und wahrscheinlich bleiben wird. Wir werden das schon meistern. Wobei es, das möchte ich nicht verheimlichen, auch Tage gibt, da könnte ich die Wände hoch gehen. Warum Peter, warum wir? Fragen und Frustrationen. Auch das gehört dazu. Dann wieder Erfolge, wenn Peter etwas bennenen kann sich den Namen merken oder aussprechen kann — Fortschritt. Das ist für mich in Intervallen ein Wechselbad der Gefühle. Manchmal, gerade wenn die Kinder eine schwierige Phase haben, fühle ich mich richtig alleine und verlassen. Mir hilft dann oft der Probeabend im Musikverein. Einfach mal für mich sein, andere Menschen treffen und Musik machen, reden und gesellig zusammensitzen. Im Alltag muss ich immer wieder aufpassen, dass ich Peter nicht alles abnehme. Unsere Ergotherapeutin hat das ganz gut erklärt. Für Peter sind die Alltagsdinge nicht einfach nur Hürden und Probleme. Nein, es sind auch wichtige Trainingselemente zur Verbesserung seines Gesundheitszustandes. Aus dieser Sicht soll ich Peter am besten nur dann unterstützen, wenn er mit einer Situation gar nicht zurecht kommt oder er einfach zu müde ist, um eine Situation zu lösen. Wichtig ist laut unserer Ergotherapeutin auch, den Tag nicht in eine Dauertherapieeinheit zu verwandeln. Das leuchtet mir ein, niemand kann den ganzen Tag bei allen Dingen immer nur lernen und üben. Ob ich immer das richtige Maß finde kann mir Peter mittlerweile ganz gut signalisieren. Wenn ich mal nicht aufpasse, merke ich es spätestens wenn Peter im Tun einschläft.”
Hannes, 15 Jahre, und Karl, 17 Jahre, Gymnasium, Fußball und Schwimmverein
“Wenn Hannes und ich mal wieder Zoff haben oder wir beide in der Schule richtig am Kämpfen sind weil Proben anstehen, kann es schon mal sein, dass Papas Art nervt. Anstatt zu helfen oder, wie er es vor dem Schlaganfall manchmal machte, mit uns Fußball zu spielen, passen wir auf ihn auf. Das ist sehr gewöhnungsbedürftig. Es fühlt sich seltsam an. Der Vorteil ist es aber schon, weil schimpfen kann Papa auch nicht mit uns.”
“Karl hat es schon besser, er bleibt einfach mal länger weg, während ich ich immer früher daheim sein muss. Was ich ich geniesse, ist mit Papa Fußball im Fernsehen zu schauen. Papa kann nicht vernünftig reden, dennoch muß ich auch auf ihn hören, das finde seltsam und fällt mir manchmal schwer. Was ich mir gar nicht vorstellen kann ist, wie es sich anfühlt wenn man nicht die Türe öffnet wenn es klingelt, weil man nicht sprechen kann.”
“Ja, Hannes, mich würde es interessieren wie es für Papa ist, wenn er einfach nicht sagen kann was er gerade sagen möchte.”
Wir haben versucht eine Familie zu zeichnen, um das Thema Aphasie greifbarer zu machen. Im Schreiben wird es deutlich, das ist nicht leicht und keinesfalls lässt sich das über einen Kamm scheren. Da jeder Mensch und jede Familie anders ist und eine eigene Lebensgeschichte hat, kann unsere erfundene Reihe um eine fiktive Familie nur ein Denkanstoß sein. Ein Denkanstoß, um sich mit dem Thema Aphasie und Schlaganfall auseinander zu setzen. Vielleicht können wir so einen Beitrag leisten dass der ein oder andere etwas mehr Verständnis für Aphasiker und von Aphasie mitbetroffenen aufbringen kann.